I Capuleti e i Montecchi, Luzerner Theater

Zur Hosenrolle in der Oper, Episode 1

Oper
1. Dezember 2023

Beherzte Verführer, Draufgänger mit Degen oder wahrhaft Liebende? – Frauen im Gewand von Männern: Zur Hosenrolle in der Oper 

 

Was haben sie doch für schöne Namen! Sesto, Idamante, Ruggiero, Ramiro, Cherubino, Amanzio. Was sie eint? Sie sind Männer. Zumeist junge Männer. Sie entstammen bestimmten Opern. Und sie müssen als Bühnenmenschen vor allem eines können, nämlich singen. Und das tun meistens Frauen. Im Gewande dieser Herren. 
Die Liste lässt sich ergänzen um Prinz Orlofsky. Jetzt könnte es in unserer Vorstellung perlen wie Champagner oder in den Ohren klingen wie in der Königin der Operetten «Die Fledermaus». Sodann um Romeo. Und spätestens hier ist doch alles klar? Diesen Mann kennen wir! Das ist der Geliebte von Julia. Und das schon viel länger als bei Shakespeare; aber er wars, der die beiden recht eigentlich ins Spiel brachte und seither sind sie uns bis heute bekannt. In der Literatur, im Film, in der Oper. Als zwei, die sich lieben, aber zusammenkommen nicht können. Es sei denn im Tode. 
Auf diese beiden kommen wir zurück. Werfen wir zunächst noch einen Blick auf die Zeit etwas nach Shakespeare. Da landen wir, was die Oper angeht, in der Epoche des Barock. Und damit fing eigentlich alles an: Die Geschlechterrollen in den Geschichten, die uns hier singend erzählt werden, lassen Sie uns beispielhaft als einen ihrer Komponisten Georg Friedrich Händel nennen, basieren nicht auf Unterwerfung, sondern auf Ebenbürtigkeit von Mann und Frau, die die Oper (und nur die Oper) durch die Wahl der identischen Stimmlage für Männer- und Frauenrollen zum Ausdruck bringen kann. Den Tausch der Geschlechterrolle empfand man in der Barockzeit als besonders attraktiv: Man suchte und fand den Reiz da in der Uneindeutigkeit des Geschlechts, im Nicht-Erkennen können, wer sich hinter Kostüm und Maske verbarg.  
Dazu kommt: Vornehmlich die Partien der «Hauptrollen» waren für hohe («engelsgleiche») Stimmen geschrieben, was dem Kunstideal dieser Zeit entsprach und meist aus voller Kehle von Kastraten erklang. Das Kastratentum allerdings war, und das aus heutiger Sicht, nichts anderes als Folter unter dem Deckmantel der Kunst.  
Haben etwas später Mozart oder auch ein Christoph Willibald Gluck vereinzelt noch mit Kastraten gearbeitet, griff schon Händel zu einer nicht unüblichen Praxis: Stand gerade einmal kein Kastrat zur Verfügung, besetzte er die Partie kurzerhand mit einer Frau. Ganz pragmatisch. An Wahlmöglichkeiten mangelte es ihm nicht. Ihm standen die besten Sänger*innen Europas zur Verfügung.  

Es ist eine Tatsache, dass Rollen- oder Partienbesetzungen heute gemäss ihrer musikalischen Notationen erfolgen, denn, was da geschrieben steht, muss erst einmal gesungen werden (können). So komponierte Mozart zum Beispiel die Partie des Idamante, Sohn seiner gleichnamigen Oper «Idomeneo», 1781 für die Stimme einer Mezzosopranistin (heute wird Idamante hin und wieder auch mit einem Countertenor besetzt). Wenige Jahre später passte der geniale Mozart für die Wiener Aufführungsserie seiner einzigen Choroper die Tessitura des Idamante an die für einen Tenor an. Das hatte weniger damit zu tun, dass Opernpartien mittlerweile in gewisser Weise einem ästhetischen Paradigmenwechsel folgend zunehmend geschlechtsspezifisch besetzt wurden, als vielmehr damit, dass Mozart ähnlich praktisch agierte wie schon Händel: Komponiert und geschrieben, und damit auch einmal kurzfristig verändert und angepasst, wurden die Partien für das gerade vorhandene und verfügbare Personal an Sänger*innen.  Frauen mussten damals und müssen heute nicht immer nur in das Gewand von mythischen Helden schlüpfen, in das eines beherzten Verführers oder den Draufgänger mit Degen mimen. Will sagen, es ist also beileibe nicht nur das illustre Opernpersonal, das sich hier um Kopf oder Kragen singt und spielt – es geht auch um die Darstellung und Veräusserung von tief reichenden und empfundenen Gefühlen: Natürlich ist Octavian in Strauss’ «Rosenkavalier» aufrichtig in die Feldmarschallin verliebt. Selbstverständlich bringt bei Händel Alcinas Liebeszauber Ruggiero fast um den Verstand. Und wenn Romeo seinem Leben in Bellinis Belcanto-Oper «I Capuleti e i Montecchi» singend ein Ende bereiten will, weil er sich erst dann im Tode mit Julia (bei Bellini die italienische Giulietta) vereint sieht, dann tut er (Romeo) dies mit einer solch emotionalen Ausschliesslichkeit, dass es völlig irrelevant bleibt, ob er das im Gewande einer Frau oder eines Mannes tut. Er/Sie liebt, leidet und stirbt auf der Opernbühne als Mensch.

Und genauso sieht es Mezzosopranistin Solenn’ Lavanant Linke. Sie verkörpert in dieser laufenden Spielzeit 23/24 in Engelbert Humperdincks Märchenspiel Gretels charmanten (und als sie sich im Wald verlaufen haben, um Mut ringenden) Bruder Hänsel, ausserdem bei Vivaldi den intriganten Bösewicht Amanzio, der in die Gattin des Titelhelden «Giustino» verliebt ist, und eben Vincenzo Bellinis Romeo. Ursula Benzing hat mit der versierten Sänger-Darstellerin vor ihrem Romeo-Debut gesprochen.

Das Interview mit Solenn' Lavanant Linke befindet sich in Episode 2 der Beitragsreihe.

 

Text von Dr. Ursula Benzing