Lucia Ronchetti

Im Gespräch mit Lucia Ronchetti

Oper
26. April 2024

Komponistin Lucia Ronchetti im Gespräch mit Dramaturgin Talisa Walser über die neue Oper «Der Doppelgänger», die am 26. April 2024 bei den Schwetzinger SWR-Festspielen ihre Uraufführung erlebt und am 7. September ihre Schweizer Erstaufführung im Luzerner Theater

 

Talisa Walser: Liebe Lucia, wie ist die Zusammenarbeit mit dir und der Librettistin Katja Petrowskaja zu deiner Uraufführung «Der Doppelgänger» entstanden?
Lucia Ronchetti: Ich habe Katja Petrowskaja vor 15 Jahren in Berlin kennengelernt. Seither pflegen wir einen regen Austausch über unsere Arbeiten: Sie erzählt mir von ihrem Leben als Autorin, ich ihr von meinem als Komponistin. Irgendwann fragte sie mich, ob wir nicht zusammen eine Oper schreiben wollten. Sie würde das Libretto verfassen, ich die Musik dazu. Als Heike Hoffmann von den Schwetzinger Festspielen auf mich zukam, war dies der Moment, um mit Katja diese Arbeit anzugehen.

Der Stoff war schnell klar: Der russische Autor Dostojewski hat mich schon immer fasziniert. Er ist ein fantastischer Schriftsteller und «Der Doppelgänger» ein sehr interessanter Roman; nicht nur, weil Dostojewski ihn im Gefängnis geschrieben hat, sondern auch, weil er erstmals mit einer sehr seriellen Erzählform arbeitet. Für Katja, die aus einer jüdischen Familie in der Ukraine stammt, war der Russe Dostojewski auch in ihrem Schaffensprozess immer präsent.

Der Roman «Der Doppelgänger» zeichnet eine moderne, nahezu artifizielle Stadt (Dostojewski bezieht sich hier auf das Sankt Petersburg seiner Zeit), die durch einen bürokratischen Apparat und seine darin agierenden Beamten organisiert wird. Es herrscht Eintönigkeit und Einsamkeit. Kommunikation wird unterdrückt, die Arbeit besteht aus einer ewigen Routine, die nicht zu durchbrechen ist. Die Menschen haben wenige Verbindungen zu anderen Personen und werden dadurch einsam und depressiv. Diese Probleme scheinen bis heute das zu zahlende Tribut für ein Leben in der modernen Welt zu sein. Dostojewski hat versucht zu analysieren, wie eine Person, die sich in diesem Umfeld befindet, spricht und was ihre Sprache definiert. Er kreiert im Roman eine moderne, abstrakte und fragmentierte Sprache, die aus den Monologen des Protagonisten Goljadkins hervorgeht. Der Doppelgänger Goljadkins, ein jüngerer Beamter, der ihn scheinbar von seiner Stellung verdrängen soll, stellt sich im Laufe des Romans als Alter Ego, respektive Wahnvorstellung Goljadkins heraus.

 

TW: Wie habt ihr euch der Sprache Dostojewskis im Libretto und in der Musik angenommen?
LR: Katja hat in ihrem Libretto ein Panorama der Geschichte dargestellt, welches sich zum grössten Teil auf Goljadkins sprachlichen Austausch mit den anderen Figuren konzentriert. Es ist eine Art Labor zur Untersuchung der inneren und äusseren Sprache des Menschen. Meine Musik geht auf diese inneren und äusseren Zustände ein: Was ist Konzentration, was ist Stille und wo befinden wir uns, wenn wir nur die Musik oder nur den Text besitzen? Bariton Peter Schöne singt in dieser Rolle die ganze Oper hindurch verschiedenste Formen eines Parlando. Viele der Gesangspassagen orientieren sich auch an Vokalisen früherer Epochen. Es entstehen improvisierte Klänge, teils ganz ohne Vibrato, welche technisch sehr unterschiedliche Farben hervorbringen. Viele der Gesangsphrasen sind sehr kurz und repetitiv, was die Metrik der Stimme bestimmt. Die Facetten des Gesangs sind kaleidoskopisch gestaltet. Der Text wird teilweise nur als rohes Material genutzt und an anderen Stellen muss der Sänger ganz klar artikulieren, um die Aussage des Textes hervorzubringen. Die Partitur besteht aus zehn Szenen, wobei in jeder Szene einzelne Klang-Momente feingliedrig kontrastiert werden. Die polystilistischen Interpretationen der Stimme Goljadkins lassen zudem die ,«Stati d’animo’» (die verschiedenen Stimmungen der Seele) anmuten.

 

TW: Wer ist «Der Doppelgänger» und wer ist Goljadkin, oder ist es ein und dieselbe Person?
LR: In der Oper begegnen wir zunächst nur der Figur Goljadkins. Er ist es, der uns seine Geschichte erzählt. Doch wissen weder er noch wir, ob es sich bei den Schauplätzen, an die er uns mitnimmt, um die reale Lebenswelt oder um seine immer schizophrener anmutende Gedankenwelt handelt. Goljadkin ist und bildet das Zentrum der Oper, während die anderen Figuren wie Satelliten um ihn kreisen und es nie ganz klar wird, ob tatsächliche Begegnungen stattfinden, oder ob all diese Figuren womöglich gar nicht existieren. Goljadkin spricht vielleicht (nur) mit sich selbst und sein Inneres spiegelt sich wie ein Kaleidoskop in multistilistischer Musik.

Doch Petrowskajas Text ist so konkret, dass ich mir beim Komponieren tatsächlich zwei physikalische Menschen vorgestellt habe. Deshalb begegnet Goljadkin im Laufe der Oper seinem Doppelgänger, ganz konkret in einem kanonischen Duett. Mir war es dabei wichtig, diese beiden Stimmen musikalisch so unterschiedlich wie möglich anzulegen. Zwei Stimmen, die in komplett unterschiedliche Klangwelten eintauchen.

 

TW: Wie hast du die Zusammenarbeit mit Dirigent Tito Ceccherini und Regisseur David Hermann im Zuge der Produktionsphase für die Uraufführung «Der Doppelgänger» erlebt?
LR: Tito und ich haben bereits zwei tolle Erfahrungen zusammen gemacht: Zum einen hat er mit mir meine Oper «Inferno» nach Dante in Frankfurt zur Uraufführung gebracht. Da wir «Inferno» in der Covid-Zeit als rein konzertante Aufführung realisieren mussten, konnten wir uns in diesem Prozess über die Interpretation meiner Musik fantastisch austauschen, und nun weiss Tito auch genau, wie meine Musik bis ins kleinste Detail funktioniert. Beim zweiten Mal trafen wir uns für «Mise en abyme» in Erl in Österreich wieder. Tito Ceccherini ist genau der richtige Künstler, der es vermag, einen Dialog zwischen meiner Partitur und den Interpret*innen herzustellen. Tito hat zudem viele Opern von Salvatore Sciarrino dirigiert, dies ist für das Verständnis meiner Kompositionen wiederum sehr aufschlussreich.

Ich lasse David Hermann komplett offen, wie er meine Musik liest und interpretiert. Die ganze Theatralik spielt sich für mich in den Klängen meiner Partitur ab. Ich stelle mir oft vor, für Hörende und nicht für Sehende zu schreiben, denn auch ich gehe durch die Strassen und höre zuerst Klänge und Geräusche um mich herum, bevor ich die Umwelt sehend wahrnehme. Die Mischung zwischen der visuellen Vision und der geschaffenen Klanglandschaft ist schliesslich das, was am Ende zu einem Gesamtkunstwerk führen soll und David bringt dafür die die interessantesten Ansätze mit.