Gastkommentar zum neuen Luzerner Theater
Herkunft braucht Zukunft
Selbstverständlich, es ist durchaus möglich, ein glückliches Leben zu führen ohne zu wissen, wann und wo in Luzern früher Theater gespielt wurde. Allerdings ist es mit dem historischen Rückspiegel wie mit anderen Dingen: Wer sich auf etwas einlässt, hat mehr vom Leben und handelt bewusster, auch politisch. Jedenfalls bietet sich hier Gelegenheit für eine kurze Zeitreise durch die Luzerner Theatergeschichte. Sie beginnt bei der Hofkirche, führt quer durch die Stadt bis zum heutigen Kasernenplatz und endet dort, wo sie enden muss.
Geistliche Spiele im Hof und auf dem Kapellplatz
Statuen sollen sozusagen zum Leben erweckt werden, so eine Grundidee der biblischen Theaterszenen bei der Hofkirche. Dabei könnte es wie auf dem Bild einer Heiliggrabtruhe von 1430 zugegangen sein: Am leeren Grab zeigen zwei Engel mit prachtvollen Flügeln den drei Marien das ausgebreitete Grabtuch des Auferstandenen.
Bald darauf wird auf dem Kapellplatz der Leidensweg Christi dargestellt, an wechselnden Stationen. Szene und Publikum wandern. Unten beim ehemaligen Hoftor das Haus des römischen Statthalters Pilatus, davor die Säule, an der Christus gegeisselt wurde. Die Schauplätze ziehen sich hinauf zum Eingangsbereich der Peterskapelle, passend für Ölberg, Kreuzigungsstätte, Heiliggrab.
Weinmarktspiele – von europäischem Rang
1481 hat die Schal auf dem Weinmarkt ausgedient. Der Abbau des langgezogenen Marktgebäudes macht den Platz zum Theaterraum – gegen den Himmel hin offen. Passt. Denn um den geht es nach wie vor. Auch Fastnachtsspiele und Schwänke sind angesagt. Unter der Leitung von Renward Cysat wird 1583 das Osterspiel aufgeführt. Das Theaterereignis dauert zwei Tage, von morgens sechs bis abends sechs – in der Fachliteratur eingestuft als die «höchstentwickelte Bühnenleistung in der gesamten Geschichte des mittelalterlichen deutschsprachigen Dramas».
Eine Generation später, 1609, wird «ein sehr schoene Comaedi von einem verdambten Doctor zu Pariss» aufgeführt, ein hoch dramatisches Totentanzspiel. «Gwüss ist der Tod, ungwüss sein Zeit», heisst es einige Jahre danach unter einem Totentanzbild von Caspar Meglinger auf der Spreuerbrücke. Im 17. Jahrhundert wird auch auf dem Mühlenplatz Theater gespielt.
Vom Freilufttheater zum Theaterraum
In der Zeit der Gegenreformation kommen 1574 die Jesuiten nach Luzern. Bis 1773 inszenieren sie vor allem im Marianischen Saal des Gymnasiums und im Lichthof des Ritterschen Palasts rund 280 Schulspiele und Dramen. Als Zensoren amten der Rektor des Jesuitenkollegiums und die Luzerner Obrigkeit. Doppelt genäht. Zum Vorläufer des Theaters an der Reuss wird für knapp hundert Jahre, 1741–1834, der Raum über der Sakristei der Jesuitenkirche. Das «Hochobrigkeitliche Comödienhaus» bietet 500 Plätze. Vier Sitzreihen sind den Gnädigen Herren vorbehalten.
Ein neues Theater – doch erst nach einem «mächtigen Fingerzeig»
Feuerpolizeilich ist der Theaterraum nicht zu verantworten. Bereits 1812 erfolgt ein Anlauf für ein neues Theater – an der Reuss! 1826 werden gleich acht Standorte vorgeschlagen. 1835, endlich, ist die Lösung gefunden: Das neue Luzerner Theater soll vor dem Baslertor gebaut werden, beim heutigen Kasernenplatz.
Das Projekt, ein feierlich ernster repräsentativer Bau, überzeugt. Trotzdem stehen die Zeichen schlecht, wie sich bei der Grundsteinlegung zeigt. Der Fundamentstein, mit einer goldenen Inschrift «Harmonie» verziert, «überstürzte nemlich verkehrt in die Grube und die Harmonie wurde begraben». Für die Presse ein «mächtiger Fingerzeig». Unwillen gegen das Projekt macht sich breit. Vorteilhafter und zweckmässiger erscheint vielen die Lage bei der «Schiffshütte» am linken Reussufer – dort also, wo das Luzerner Theater kurze Zeit später tatsächlich gebaut wird. 1839 ist es so weit. Die Eröffnung des Hauses an der Reuss kann im liberalen Luzern nur mit einem Stück gefeiert werden: mit Friedrich Schillers Freiheitsdrama «Wilhelm Tell».
Die unerwarteten Geschenke sind die schönsten
Zeitsprung. Nach bald zweihundert Jahren mit zahlreichen Umbauten und Erweiterungen braucht das Luzerner Theater eine umfassende Erneuerung. Als die Stadt im Frühjahr 2022 den Wettbewerb für das Projekt lanciert, lässt sie offen, ob der bestehende Bau zu erhalten sei. Ist die weitere Verwendung eine ernsthafte Option? Am Beginn der fünftägigen Jurierung hält dies im 40-köpfigen Gremium kaum jemand für möglich. Aber erstens kommt es anders, und zweitens als man denkt.
Eine Konstellation wird zum Luzerner Markenzeichen: Die Jesuitenkirche, 17. Jahrhundert, und das umfunktionierte Theater an der Reuss, 19. Jahrhundert, rahmen als historische Wächter den neuen Theaterbau, 21. Jahrhundert. Ein Bekenntnis zur Tradition und zugleich zum Wandel, ein Manifest.
Architektonische Herausforderung
Was ist in baulich heikler Lage erforderlich, unmittelbar neben einer der prächtigsten Barockfassaden landesweit? Es braucht Respekt, nicht zu knapp. Von daher liest sich die schmucklose Fassade des Bühnenhauses wie eine Hommage an die Jesuitenkirche und ihre Monumentalität. Die bewusste Nicht-Inszenierung des Bühnenhauses mag leicht gewöhnungsbedürftig sein; dennoch ist sie so etwas wie ein städtebaulicher Geniestreich.
Respektvolle Gebärden allein reichen allerdings nicht. Es braucht auch den selbstbewussten Ausdruck. Der zeigt sich nicht zuletzt in den Giebeln. Die Abfolge vom klassizistischen Dreieckgiebel der alten Theaterfront über die beiden verschieden materialisierten Giebel des neuen Theaterbaus zum Rundgiebel der Jesuitenkirche ist ein rhythmisch heiteres Zusammenspiel, typisch für die hohe Qualität des Projekts.
Die Zukunft kann kommen
Wie in zwanzig oder fünfzig Jahren Theater gespielt wird, weiss niemand. Gemäss einem witzigen Rat sollen namentlich Mitglieder der historischen Zunft bei Pferderennen erst wetten, wenn die Pferde bereits eingelaufen sind... Kann also bei einem Theaterneubau das Thema «Zukunft» gestrichen werden? Im Gegenteil: Es ist alles vorzukehren, damit morgen Ideen realisiert werden können, die heute noch gar nicht in den Köpfen sind. Ein matchentscheidendes Luzerner Plus: Der Theaterraum lässt sich öffnen, und die Bestuhlung ist versenkbar. Innen und Aussen werden zu einer einzigen grossen Theaterszenerie. Das ruft förmlich nach innovativen Projekten – in allen Sparten, Zusammensetzungen, Stilrichtungen.
Alles in allem: Der richtige Bau am richtigen Ort zur richtigen Zeit.
Der Emmer Historiker Kurt Messmer war im Rahmen der Jurierung für das Neue Luzerner Theater Mitglied des Berater- und Expertenteams ohne Stimmrecht
16. Dezember 2024