Fabienne Lehmann

«Das Maitannli», eine Kolumne von Fabienne Lehmann

Schauspiel
12. Dezember 2023

Das Maitannli

Von Sexpuppen und anderen Traditionen

 

Es ist Anfang Mai im vergangenen Frühling, ich fahre mit meinem alten Damenfahrrad durchs Dorf in Richtung Gemeindehaus, um irgendeinen wichtigen Zettel in den Briefkasten zu schmeissen, als ich mitten auf der Strasse anhalte.
Auf der anderen Strassenseite steht ein 10 Meter hoher Mast, der mit Spannseilen an der Strassenlaterne befestigt wurde.
Oben am Mast hängt eine Sexpuppe.

Unter der Puppe ist ein Holzschild an den Mast genagelt, mit einem Namen darauf, den ich kenne.

Es ist helllichter Tag, Autos fahren an mir vorbei, Kinder laufen mit quadratischen Schulranzen auf dem Rücken zum Mittagessen nach Hause. Alle sehen die Puppe, aber niemand wundert sich darüber.

Wütend drehe ich um, vergesse meinen wichtigen Zettel und fahre zurück auf den Hof, wo gerade mein Bruder aus der Haustür kommt. 
«Hast du die Puppe gesehen?» Ich knalle das Fahrrad in den Ständer.
«Ja, und?» mein Bruder sucht in seiner Jackentasche nach einem Feuerzeug.
«Was, ja und? Das ist doch völlig daneben.»
Er zuckt mit den Schultern und zündet seine Zigarette an.
«Das ist halt Tradition.»

Beim Maitannli-Stellen handelt es sich um den Brauch, dass junge, unverheiratete Burschen eine Tanne beim Haus, in dem ein junges, unverheiratetes Mädchen wohnt, aufstellen. Nur diejenigen jungen Frauen, die in der Gunst der Dorfjugend stehen, können damit rechnen, dass es bei ihrer Wohnung eines Morgens ein Maitannli hat.

So steht es in der Dorfchronik, die hier in jedem anständigen Haushalt im Bücherregal zu finden ist. In der Nacht vom 30. April auf den 1. Mai ziehen grölende Jugendliche mit Bierkästen und vom Förster entasteten, feucht glänzenden Tannenstämmen mit Traktor und Anhänger durchs Dorf. Vor jedem Haus, in dem ein unverheiratetes Mädchen wohnt, (dem Aspekt der «Gunst» hat man sich mittlerweile entsagt und stellt nun jedem Weiblein ein Tannlein) hält die heitere Meute und befestigt an einer Laterne, einem Stromkasten oder was sich auch finden lässt, die Tanne.
Als mein Stiefvater jung war, sind sie noch in die Nachbardörfer gefahren und haben denen die gestellten Tannen mit der Motorsage wieder umgelegt. Ein Nacht-langes Hin und Her, Tannen wurden bewacht, Rivalen verjagt.
Heute hat der Dorfpatriotismus deutlich abgenommen, doch der zweite Teil dieses Brauches gibt es noch immer, wenn auch in abgewandelter Form: Die Puppe.

Die Burschen konnten einem Mädchen, das sich in ihren Augen einem groben moralischen Fehlverhalten schuldig gemacht hatte, eine Lektion erteilen, in dem sie ihm an Stelle eines Maitannlis eine Strohpuppe an einem dürren Tännchen befestigt beim Haus aufstellten.

Heute ist der Deal folgender: Wer eine Tanne kriegt (also alle Mädchen) muss demjenigen, der die Tanne gestellt hat (also alle Jungs) im Verlauf des Jahres zu einem Imbiss einladen. Versäumt dies ein Mädchen, kriegt es im nächsten Jahr eine Puppe gestellt. Wie bei der Tanne, steht ihr Name darunter.
In manchen Nachbarsdörfern wird mittlerweile auf das Puppen-Stellen verzichtet, andere haben diese «Tradition» nie gekannt, manche tun es bis heute.

In so einem Dorf weiss man, welcher Name auf einem Holzschild zu wessen Gesicht gehört. Die Tochter von der und dem, die, die früher so schön Klavier spielte, na die, die oft kurze Röcke trägt oder die, die nie Röcke trägt.
Auf dem Holzschild unter der rosaroten Puppe steht der Name eines Mädchens, das mit meiner kleinen Schwester zur Schule gegangen ist. Ein ruhiges, zurückgezogenes Mädchen. Ein Mädchen, das früher bei uns im Wohnzimmer an der Geburtstagsparty meiner kleinen Schwester «Reise nach Jerusalem» mitgespielt und Schokoladenkuchen gegessen hat. Ein Mädchen, das nun dafür geächtet wird, dass sie nicht 15 Jugendliche zu sich nach Hause eingeladen und sie bekocht hat.

Mein Bruder drückt seine Zigarette aus.
«Wir machen uns die Mühe, allen eine Tanne zu stellen. Da ist es ja nur fair, wenn die uns was als Gegenleistung geben.»
«Naja», sage ich, «wäre es dir nicht lieber, sie würden euch freiwillig einladen? Euch droht schliesslich auch niemand mit öffentlicher Ächtung und ihr macht es trotzdem.»
Mein Bruder denkt nach und nickt schliesslich. «Ja, vielleicht. Aber die Alten werden das nicht ändern wollen.»
Als wäre es Jugendlichen stets ein Anliegen, es den «Alten» recht zu machen. Diese Tradition, sie gehörte schon immer den Jüngeren, sind es doch die jungen Leute, die Tannen stellen und kochen. Die jungen Leute, die sich die Mühe machen, diese Traditionen am Leben zu behalten, gerade sie sollten immer wieder aufs Neue bestimmen dürfen, was die Regeln sind.

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Einen Tag später ist die rosarote Puppe fort.
Leute aus dem Dorf haben sich beim Gemeindepräsidenten beschwert.
Sie finden es «geschmacklos».
Weil die Puppe nicht aus Stroh ist.