Fabienne Lehmann, Luzerner Theater

«Die Tracht», eine Kolumne von Fabienne Lehmann

Schauspiel
14. November 2023

Die Tracht

Die Frauen, die meine Grossmutter gewesen ist

 

Meine erste Tracht war dunkelblau. «Königsblau», wie ich gerade mit dem Kindergarten im Zoo anhand von Pinguinen gelernt hatte, und ich liebte die Tracht so innig, als gehöre sie mir.
Tatsächlich durfte ich sie nur ausleihen, schliesslich würde sie mir in einem Jahr sowieso schon wieder zu klein sein. Zwischen aufgeregten Kindern stand ich im Flur des Schulhauses, überall wurden Kleider aus raschelnden Plastikumhängen gezogen und an die zappeligen Körper rangehalten, als meine Trachtengruppenlehrerin rief «Fabienne, das hier ist die Kleinste, die ist für dich» und mir den schwer behangenen Kleiderbügel übergab, den ich aufgeregt an mich drückte und mit nach Hause nahm.

Manchmal schlich ich mich heimlich ins Schlafzimmer meiner Mutter, wo die Tracht im Schrank hing. Zog sie an, schwenkte den Rock vor dem Spiegel hin und her, drehte mich im Kreis und bildete mir ein, nicht das Kleid einer Bäuerin, sondern das einer Königin zu tragen. «Du musst doch noch die Schürze anziehen» bemerkte meine kleine Schwester, als sie mich einmal dabei entdeckte und ich zuckte mit den Schultern. «Ich mag sie aber lieber ohne» und wusste, mit fünf Jahren, doch ganz genau; eine Tracht ohne Schürze, trägt man nur heimlich.

Vor jeder Aufführung lief ich über den Hof, zum Haus meiner Grossmutter. Wenn ich mit meinen geflochtenen Zöpfen am Kopf ins Wohnzimmer stürzte, voller Aufregung, stand Heidi seelenruhig vor dem Bügeleisen und glättete unsere Blusen. Heidi war es, die mich durch diesen Prozess führte, mit dem ich zu etwas wurde, das ich erst viel später so wirklich verstand. Meine Mutter kannte sie nicht, diese Art der Rituale, schliesslich kam sie aus «dem Deutschen», wie sie hier sagten. Ich war das Kind aus erster geschiedener Ehe und mein Vater war ein Städter. Und doch hiessen mich meine Stief-Heidi und die anderen Frauen im Dorf unter sich willkommen, weil sie verstanden hatten, woher ich kam spielte keine Rolle mehr. Ich gehörte nun zu ihnen, was auch immer das bedeutete.

Eine Tracht anziehen dauert seine Zeit. Vorsichtig in die frisch gebügelte Bluse schlüpfen, ohne dass sie zerknittert, dann ins Kleid, vorne die vielen Hacken verschliessen, die Schürze binden, das schwarze gehäkelte Tuch über den Schultern anheften, das Blumengesteck vorne an der Brust befestigen und eine Brosche an die Bluse. Abwechslungsweise legte Heidi mir und dann sich selber eine der vielen Schutzschichten an, bis wir beide in Vollmontur und Hand in Hand das Haus verliessen und zum Gasthof Bären, ins Gemeindehaus oder zur Turnhalle liefen, je nachdem, wo wir unseren Auftritt hatten.

Ich liebte meine Tracht, ich liebte das Ritual mit Heidi, ich liebte das Tanzen, aber ich hasste den Auftritt. Dabei ging es nicht um das Vorführen der Tänze, sondern vielmehr darum, dass ich das, wozu ich geworden war, hier nicht sein wollte: Ein Mädchen. Und nicht irgendein Mädchen: Ein Mädchen, das gebürstete Haare hat und glänzend saubere Schuhe trägt. Ein Mädchen, dem die Familie zuruft, es solle doch mal lächeln. Ein Mädchen, das schön anzusehen ist.
Wenn mich auf der Bühne dieses unangenehme Gefühl beschlich, dieses «Gschudere», dann war es stets die Hand einer der Frauen, die mich hielt und mir das Gefühl gab, dass ich nicht alleine war. Die vom Arbeiten raue Haut, die meine kleinen Finger umschloss und mich über die Bühne führte, mich im Kreis drehte, diese so genannten Frauen-Körper waren es, die mir den Weg durch diese Ungeheuerlichkeiten wiesen. Die gelernt hatten, was ich erst noch würde lernen müssen.
Sie waren im Verlauf ihres Lebens zu Meisterinnen der Performance von Geschlecht geworden, testeten sie doch schon seit Jahrzehnten, wo und wie weit es sicher oder von Vorteil war, in die eine oder die andere Rolle zu schlüpfen. Sie hatten gelernt, Frauen haben lange geflochtene Zöpfe und deshalb schneiden sich die Frauen hier die Haare kurz, nachdem sie den Nachwuchs in die Welt gesetzt haben. Als würden sie sagen: «Seht her, da ist der Beweis, ich bin eine, und jetzt lasst mich damit in Ruhe.» Immer wieder entziehen sie sich dem Bild, das die Leute um sie und sie selber von einer Frau haben, weil sie wissen, wie anstrengend es manchmal ist, eine zu sein.
Doch sie haben auch verstanden, dass kleine und grosse Rebellionen nur toleriert werden, solange sie sich nicht zu offensichtlich gegen verfestigte Regeln wehren. So lange sie sich immer noch aufwendig zurecht machen, sich auf eine Bühne stellen und schön an zu sehen sind.
Was auch immer das bedeutet.

«Das ist die Gotthelf-Tracht, oder nein warte, das ist die Hochzeits-Tracht und das ist die Gotthelf-Tracht.»
Heidi streicht über die fein bestickten Stoffe. Wir stehen in ihrem Schlafzimmer vor dem Wandschrank, in dem mindestens 10 Trachten hängen.
«Die sind mir ja jetzt leider alle zu gross», sagt sie, «die müsste man umnähen lassen» und ich ertappe mich bei dem Gedanken, ob sich das denn überhaupt noch lohne und schäme mich sofort dafür.
«Würdest du sie denn gerne mal wieder anziehen?» frage ich und sie nickt euphorisch, «Ja natürlich!"
Heidi ist kein Mensch von vielen Worten. In diesem Sinne ist sie ganz Frau, arbeitet ihr Leben lang von morgens bis abends, ohne, darauf hin zu weisen. Ohne, auf ein Lob zu warten, weil Frauenarbeit unsichtbar zu sein hat.

«Der Kopfschmuck ist ja toll!» sage ich und Heidi sieht sich verwundert um.
«Wovon redest du?»
«Na der Kopfschmuck da.» wiederhole ich und zeige auf das oberste Regal, auf dem mit Rüschen besetzte Kopfbedeckungen stehen.
Heidi sieht mich erstaunt an. «Du nennst das Kopfschmuck?»
«Wie denn sonst?»
«Das ist doch eine Haube», sagt sie und ich verstehe; Bäuerinnen tragen keinen Schmuck.
Heidi geht mit mir durchs Haus und zeigt mir noch andere in Schränken versteckte Körperhüllen, stolz darauf, was für schöne und teure Frauen sie gewesen ist. Und so schön verziert und edel diese Frauen auch sein mögen, tragen sie stets die Schürze dazu. Das Kleidungsstück, das von der Arbeit und der Geschichte erzählt, die man ihnen abspricht.